Inklusion und Sprache - eine Kurzgeschichte

Wie kommunizieren wir eigentlich miteinander? Die folgende Kurzgeschichte erzählt von einem Tag im Leben eines jungen Mädchens. 

 

Ein braves Mädchen

 

„Steh sofort auf! Du bist zu spät!“, schreit Ophelias Mutter. Mit pochendem Herzen reißt das Mädchen die Augen auf und die Decke von sich. Schlaftrunken taumelt sie durch das Zimmer. „Wie ein Kleinkind muss ich dich morgens wecken. Wie sieht es hier überhaupt aus? So ein Schweinestall! Stinkfaul bist du. Was soll aus dir werden? Wir haben dir immer beigebracht, ordentlich und pünktlich zu sein. So benehmen sich brave Mädchen nicht.“, ruft die Mutter, während Ophelia einen roten Rock und ein schwarzes Oberteil aus dem Schrank zieht. „Heute gehst du früher ins Bett, Fräulein. Deine Einstellung gefällt mir überhaupt nicht. Ich habe es satt. Sieh zu, wie du zur Schule kommst. Hast du gehört?“, ruft sie dem Mädchen ins Badezimmer hinterher. Ophelia schluckt die Zahnpasta herunter und rennt aus der Tür Richtung Bahnhof. 

 

Die riesige Bahnhofsuhr tickt unermüdlich. Menschenmassen schieben und quetschen sich aneinander vorbei. Ophelia eilt mit ihnen zu den Gleisen. „Spasti, mach mal die Augen auf! Hast du gehört?“, ruft jemand mit wütender, tiefer Stimme. „Bist du behindert, oder was?“, schreit eine Frau zurück. „Störung im Betriebsablauf“, dröhnt es aus den Lautsprechern. Die Abfahrt verzögert sich um 30 Minuten. Ophelia setzt sich auf eine alte, verschmierte Bank. Während sie auf den Zug wartet, zählt sie sieben Mittelfinger, fünf Hakenkreuze und die Worte Zigeuner, Schwuchtel und Schlampe. Ophelia fühlt sich unwohl auf dieser Bank. Schnell schlägt sie ihre Beine übereinander. Mädchen sitzen nicht breitbeinig, erinnert sie sich. Immerzu hatte sie die Oma ermahnt, die Schenkel zusammenzupressen. Ophelia überlegt, ob sie sich den Worten wiedersetzen soll. Schnell verwirft sie den Gedanken. Vielleicht hätte sie es gewagt, wenn sie nicht diesen blöden roten Rock angezogen hätte. Stattdessen steht sie auf und geht zur Seite.

 

„Hey Süße, komm doch zu mir“, lächelt sie ein junger Mann im quietschgelben Kapuzenpollover an. Ophelias Blick wandert auf den Boden. „Schätzchen, hast du gehört? Sei ein braves Mädchen und komm zu mir.“, drängt er weiter, während Ophelia mit gesenktem Kopf und schnelleren Schritten flüchtet. „Du bist sowieso hässlich.“, schreit der Junge gekränkt hinter ihr her. Der Zug fährt endlich ein. Unzählige Menschen schieben sich wieder dicht aneinender, um einen der raren Sitzplätze zu ergattern. Ophelia steht mittendrin. In der Menge riecht es nach Zahnpasta und Schweiß. Auch im Abteil ist es eng und stickig. Ophelia setzt sich zu einem anderen Mädchen, das vergnügt mit dem Kopf wippt. „Du hast Schiss, hast du mich gehört? Ich mach euch kalt, Mann, ich schwör`s! Ohne eine Knarre zu zieh`n, hast du mich gehört?“, dröhnt es aus ihren Kopfhörern. Nur noch eine Haltestelle bis zur Schule. 

 

Ophelia steigt aus und rennt Richtung Schulgebäude. Vor zwei Monaten hat jemand den Eingangsbereich beschmiert. „Fickt euch, Dreckslehrer“ ist nun auf der Tür zu lesen. Die Worte reihen sich zu den unzähligen Mittelfinger und männlichen Genitalien. Ophelia fallen sie längst nicht mehr auf. Vor dem Klassenzimmer bleibt das Mädchen stehen und zupft an ihrem Rock. Erst klopft Ophelia vorsichtig, dann öffnet sie die Tür. „Na, gibst du uns auch die Ehre?“, grinst der Pädagoge. Ophelia murmelt unverständlich eine Entschuldigung. „Genug von dem Geschwafel. Du störst meinen Unterricht. In letzter Zeit gefällt mir deine Einstellung nicht. Immer warst du ein braves Mädchen, Ophelia. Was ist nur los? Jetzt setz dich hin. Na, mach schon. Hast du gehört?“ Ophelia nimmt auf einem alten, verschmierten Stuhl Platz. Sie fühlt sich unwohl, aber aufstehen darf sie nicht. Über der Tür tickt eine riesige Uhr langsam und schwerfällig. Erst als es klingelt, fühlt sie sich erlöst. Endlich Mittagspause. 

 

Lehrkräfte und Jugendliche schieben und quetschen sich aneinander vorbei Richtung Schulhof. Ophelia steht mittendrin.„Alter, gib mir meine Kappe zurück! Hast du gehört?“ ruft jemand mit wütender Stimme. „Deine Kipa liegt im Mülleimer, kleiner Jude.“, schreit eine Jungenstimme zurück. „Hau dem Kanaken aufs Maul“, lacht ein Mädchen. „Kuchenverkauf in der Aula fällt aus!“, dröhnt es aus den Lautsprechern.Ophelia zieht sich mit ihrem Handy auf eine verschmierte Eisenbank zurück. Sie klickt sich von Artikel zu Artikel. Seit Tagen liest sie immer die gleiche Diskussion im Netz. Aber den Streit um irgendwelche Asyltouristen, Obergrenzen, Terroristen und Gutmenschen versteht sie nicht. Sie wischt die Internetseite weg. Dann noch eine und noch eine. Schließlich öffnet sie ein Video. Der amerikanische Präsident ist zu hören. Er erzählt, dass Stars alles mit Frauen machen können. Man kann ihnen einfach zwischen die Beine fassen, sagt er. Ophelia erinnert sich an ihre Oma, zupft an ihrem roten Rock und schlägt die Beine übereinander.

 

Als sie von ihrem Handy hoch schaut, steht plötzlich der Junge mit quietschgelben Kapuzenpollover vor ihr. Er grinst sie an, während das Mädchen ihre Hände zu Fäusten ballt. Und weil Ophelia in diesem Moment beschließt, kein braves Mädchen mehr zu sein, steht sie auf, rennt auf den Jungen zu und schlägt brutal auf ihn ein. Sofort versammeln sich andere Jugendliche um das Gerangel. Einige schauen entsetzt zu, andere grölen oder filmen die Schlägerei. Lehrkräfte werden herbeigerufen. Als sie ankommen, liegen die beiden bereits blutüberströmt auf dem Boden. „Es wird immer schlimmer mit euch Plagen!“, schimpft eine Pädagogin und zerrt das um sich tretende Mädchen zur Seite. Ein anderer Lehrer hält den Jungen im gelben Pullover fest. „Ihr könnt nur noch fluchen, pöbeln und schlagen. Zu nichts seid ihr sonst fähig. Geistiger Abfall, mehr nicht. Wenn ich euch sehe, fürchte ich um meine Pension.“, stimmt ein Pädagoge zu und lacht, während sich Ophelia das Blut aus dem Gesicht wischt und den roten Rock richtet. 

Verfasserin: Anna Kokkinidis

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